Grimes – Art Angels

VÖ: 11.12.2015

Label: 4AD

Genre: (Art-/Synthie-)Pop, EDM

So kann es manchmal gehen… Es schien so, als würde die von den Kritikern überaus geschätzte Kanadierin Claire Bocher alias Grimes den experimentellen Charakter ihres Sounds, den sie so gelungen auf den Vorgängern, vor allem auf dem vielfach gepriesenen Visions zum Ausdruck brachte,  etwas vernachlässigen. Wäre ja nicht das erste Mal, dass der „Indie-Gemeinde“, d.h. denjenigen darunter, die stets und kompromisslos den Abstand zu allem suchen, was mit Mainstream und kommerziellen Aspekten in Verbindung zu bringen ist, ein weiterer Act – auf den sie dann so stolz sein kann – verloren ginge. Lieber auf Nummer sicher gehen, „glattere“, eingängigere Klänge zugunsten zu hoher Risiken mit künstlerisch Ambitioniertem. Natürlich ein Vorwurf, der zutreffen kann, aber bitte doch nicht zwangsläufig jedem Künstler unterstellt werden kann – schon gar nicht Grimes. Allerdings, auch hier bei hicemusic war man zunächst skeptisch, denn die Singles, die sie im Vorfeld und während der Albumproduktion veröffentlichte, wurden zunächst als eher mäßig befunden. Go, das nicht auf Art Angels enthalten ist, sowie Realiti. Ebenso die erste, aus dieser LP ausgekoppelte Single Flesh Without Blood sorgte bei hicemusic zuerst für zurückhaltende Reaktionen. Bei allen  – auch wenn die Qualität der Beispiele variiert – war dies in fehlender Geduld und oberflächlichem Hinhören begründet. Insbesondere bei Flesh Without Blood stellt sich im Nachhinein heraus, dass dieser Song richtig klasse ist. Grimes stellt hier, wie auch auf dem gesamten Album ihre herausragenden Produktionsfertigkeiten unter Beweis. Auf Art Angels weiß sie zudem ihren nach wie vor individuellen, künstlerisch ambitionierten Gesangsstil und ihr Gespür für moderne und mannigfaltige Klänge eindrucksvoll einzusetzen. Es gibt auch Töne zu hören, die dem Charts-Pop nah sind, aber so geschickt und wirkungsvoll eingesetzt, dass es letztendlich passt. Große Platte, die ihr Potential langsam entfaltet.

Note: 2,0

www.grimesmusic.com/

 

Grimes – Flesh without Blood_Life in the Vivid Dream from Oldmagnet on Vimeo.

Grimes – REALiTi! from Eric Marin on Vimeo.

The Chap – The Show Must Go

VÖ: 27.11.2015

Label: Lo

Genre: Indie-Pop/-Rock, Electronica

The Chap ist ein aus London stammendes Quintett, das seit 2000 existiert, inklusive The Show Must Go sechs LPs eingespielt hat und über eine sehr internationale Besetzung verfügt (darunter auch zwei Deutsche, z.B. Johannes von Weizsäcker, der Großneffe des ehemaligen Bundespräsidenten). Ihr Sound bewegt sich seit jeher zwischen Indie-Pop bzw. -Rock und Electronica (was gelegentlich ja noch als „Indietronica“ bezeichnet wird), intelligent variiert oder kombiniert mit Elementen aus anderen Stilrichtungen. War ihr Debüt The Horse (2003) noch sehr sparsam arrangiert, im Lo-Fi verortet, wurden die darauffolgenden Alben immer aufwendiger in Bezug auf Instrumentation und Arrangement. In Hinsicht ihrer Lyrics nahmen sie zu gesellschaftlichen Themen – gerne auch politischer Art – zudem pointiert und ironisch Stellung. Es bieten sich da ja auch immer wieder gute Möglichkeiten für die Band, sich diesbezüglich einzubringen (was sie seit jeher auch klug genutzt hat). Insbesondere ihre oben erwähnte europäisch geprägte Besetzung birgt – bewusst oder nicht – eine aktuell politisch wichtige Botschaft: in Zeiten der Euro-Krise machen fünf Personen griechischer, deutscher, britischer und  französischer Herkunft gemeinsam sehr intelligente Musik. So auch auf dem neuen Werk mit dem ebenso aussagekräftigen Titel The Show Must Go. Es gibt erneut mannigfaltige, Genre-überspannende  Sounds zu hören, ob aus (Kraut-/Psychedelic-)Rock, osteuropäischen Musiken oder (Post-)Punk, verziert mit schönen Störgeräuschen und Electro-Spielereien. Es ist wirklich wahr, es gibt genug Abwechslung zu hören. Politisch ist es auch wieder. So wird beispielsweise in Post Doom Doom dafür plädiert, dass Griechenland in der Eurozone bleibt oder die gegenwärtige Situation von Jugendlichen und Studenten kommentiert (in Student Experience oder im starken Hey Youth). Straight, auch mal ironisch, ohne sich zu verstecken. Ein Highlight des Jahres!

Note: 2,0

  

The Chap – Guitar Messiah from Lo Recordings on Vimeo.

Fraktus – Welcome To The Internet

VÖ: 27.11.2015

Label: Staatsakt

Genre: Electronica / Trash-Pop

Die Mitglieder der Band wurden in der wunderbaren, nach ihr benannten Mockumentary Fraktus – Das letzte Kapitel der Musikgeschichte (2012) als Innovatoren des Techno gepriesen, ihr Aufstieg, Abstieg und Comeback in humorvoll-alberner, gleichzeitig liebevoller, absolut detailverliebter Art und Weise skizziert, mit vielen Zitaten aus der Popkultur. Es gab mehrere Gründe, weshalb der Film so gut funktionierte, vor allem lag es an den hervorragenden schauspielerischen Leistungen des Studio Braun-Künstlerkollektivs um Rocko Schamoni, Jacques Palminger und Heinz Strunk – als auch der Nebendarsteller wie Devid Striesow (als Musikproduzent von Fraktus) –, den glaubwürdigen und realistisch wirkenden Kommentaren von Musikern wie Blixa Bargeld, H.P. Baxxter, Dieter Meier oder Hans Nieswandt sowie einer nachvollziehbaren, durchdachten Story bezüglich der Diskographie und Biographie der Bandmitglieder, mit Sachkenntnis der Pophistorie sowie der Mechanismen des Musikbusiness. Naja, mit der Materie sind die Hamburger ja schon länger vertraut, waren sie in den letzten Jahren doch solo aktiv – erstgenannte beide Künstler haben dieses Jahr noch Alben veröffentlicht. Es werden auf Welcome To The Internet  – wie auch bereits auf Fraktus‘ Best-Of-Compilation Millennium Edition (2012, mit dem „Hit“ Affe sucht Liebe) – wieder Electronica-Spielarten (die Kraftwerk ebenso einschließen wie Eurodance à la Snap) mit albernen Texten geboten. Es gilt (wie z.B. auch schon bei Studio Brauns Telefonstreichen): hinter all dem Un- steckt gleichzeitig auch viel Tiefsinn, musikalische Kompetenz sowieso, was letztendlich Aufmerksamkeit verdient hat (auch wenn der Humor sicherlich nicht jedermanns Sache ist). Der Titelsong beispielsweise bietet Dickie Starshines (Rocko Schamoni) in absolut grauenhaftem Englisch vorgetragene „Konversation“ mit einer Dame über seine Erfindung, das Internet. Aber auch Palminger und vor allem Strunk (u.a. in Saugetücher, Schuhe aus Glas und Originals) bringen sich gekonnt ein.

Note: 2,3

www.fraktus.de/

 

Jamie Woon – Making Time

VÖ: 06.11.2015

Label: Polydor

Genre: Electronica / Soul

In den letzten Jahren hat sich in Großbritannien eine Szene um diverse Künstler entwickelt, deren Musik trotz einer (oft extrem) minimalen Erscheinungs- und Wirkungsweise komplexe Strukturen aufweist, die man wegen der tiefen Bässe und den synkopierten Rhythmuspatterns als „Post-Dubstep“ bezeichnet – in Anlehnung an das Electronica-Genre Dubstep, gleichzeitig als Abgrenzung zu Interpreten, die seit Ende der 2000er und Anfang der -10er Jahre mit ihm in Verbindung gebracht werden und es dem Mainstream zugeführt haben (Skrillex z.B.). Die Palette der Ausdrucksformen wurde erweitert, wobei auch die ursprünglichen Underground-Stilmittel der musikalischen Spielart beibehalten wurden. Electronica – von Drum and Bass, 2 Step und Jungle bis Ambient – intelligent kombiniert mit R&B, Soul oder Reggae. In letzter Zeit sind immer wieder Künstler aufgetaucht, die erstklassige Werke mit diesen originellen Klängen und vielfältigen Ideen veröffentlichten. Da wären zum Beispiel: James Blake, Jamie XX, Mount Kimbie, SBTRKT, Kode 9, Scuba, Zomby oder FKA Twigs – nicht zu vergessen, der hier besprochene Interpret: Jamie Woon. Vor vier Jahren veröffentlichte der 32-Jährige – nachdem er bereits mit der EP Wayfaring Stranger (2007) auf sich aufmerksam machen konnte – seine Debüt-LP Mirrorwriting. Diese wurde von der Kritik in höchsten Tönen gelobt und landete im „Sound of 2011“-Poll der BBC. Im selbigen war auch James Blake zu finden, der Woon letztendlich ein wenig den Rang ablief. Denn in den Jahresbestenlisten landete Erstgenannter schließlich auf den vordersten Plätzen, während Woons Platte in diesen doch ein wenig vergessen wurde – zu Unrecht (auch wenn Blakes Debüt selbstverständlich ein Meisterwerk ist). Woon versucht nach vier Jahren einen neuen Anlauf, vermählt auf Album Nr. 2 wieder einmal sehr versiert die musikalischen Pole Electronica, Soul und R&B. Wunderbare Stimme, kluge Melodien und Rhythmusarrangements mit vielfältigen neuen Ideen.  Atmosphärisch und mitreißend!

Note: 2,0

www.jamiewoon.com/

 

Seinabo Sey – Pretend

VÖ: 23.10.2015

Label: Universal

Genre: (Electro-)Pop / Neo-Soul

Die Spielreihe FIFA des Herstellers Electronic Arts existiert ja nun auch schon seit über 2 Dekaden. Jedes Jahr gibt es (mindestens) eine Ausgabe, mit den jeweils aktuellen Mannschaften, Spielern, Turnieren etc., deren Saisons auf PC, Playstation usw. nachgespielt werden können. Nahezu genauso lang existiert bereits die Sammlung an zeitgemäßen Pop-Songs, die zu jedem Release als musikalische Beilage mitgeliefert wird. In dieser Hinsicht wurde seit jeher ziemlich qualitativ hochwertige Arbeit abgeliefert, Spielkenner werden es wissen. Mag eine Behauptung sein, aber es wird wohl nicht wenige geben, die einen Britpop-Klassiker mit dem Game in Verbindung bringen (den Song eventuell erst im Zusammenhang mit dem Spiel das erste Mal gehört haben). FIFA: Road To World Cup 98 hatte Blurs Song 2 im Angebot. Auch in den letzten Jahren hat man (fast) immer wieder Songs präsentiert, die den Beweis erbracht haben, dass bei EA ein paar Personen angestellt sind, die ein Händchen für interessante und abwechslungsreiche Musik haben, die gekonnt zwischen Mainstream und Indie die Balance halten. Auf FIFA 16 ist dies weiterhin der Fall, auf dem nun ein wirklich spannungsvoller Beitrag zu finden ist: die Single Pretend der 25-jährigen Schwedin Seinabo Sey. Nun ist deren Langspiel-Debüt erschienen, welches auf Gesamtlänge nicht ganz so zwingend ist wie erwähnter Song, aber eine gelungene und wohl durchdachte Alternative zu Charts-und Formatradio-Einerlei bietet. Inspiriert von Alicia Keys und Beyoncé, gesegnet mit einem Gespür für mannigfaltige Instrumental-Arrangements als auch einer Stimme, die in manchen Momenten an große Künstlerinnen wie Mavis Staples oder Nina Simone erinnert. Seinabo Sey wird deshalb in ihrer Heimat gefeiert, sie hätte es auch hierzulande verdient. Die Macher von FIFA haben den ersten Schritt getan und ihr Potential erkannt. Mal schauen, was da noch so kommt! Ein Hörtipp neben Pretend ist in jedem Fall Burial (ihrem verstorbenen Vater gewidmet).

Note: 2,3

www.seinabosey.com/

 

Seinabo Sey – Younger – Silent Bus Sessions from Chimney on Vimeo.

Silent Bus Sessions / Seinabo Sey – Hard Time from Joakim Behrman on Vimeo.

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